Wer bin ich für dich, nach soviel Jahren

Im Briefwechsel von Ingeborg Bachmann und Paul Celan erwacht die Lebens- und Literatur-Geschichte zweier der bedeutendsten Autoren der Nachkriegszeit neu – und entrollt ein kulturelles Panorama mit finsteren Zügen

VON FRAUKE MEYER-GOSAU

Neun Gebote stehen am Anfang, und sie sind ein Geburtstagsgeschenk: Der 27-jährige Lyriker Paul Celan aus Czernowitz widmet der Philosophiestudentin Ingeborg Bachmann aus Klagenfurt zu deren 22. Geburtstag ein Gedicht. «In Ägypten» heißt es, ist datiert auf den 23.Mai 1948 und fixiert die Paragrafen des Gesetzes, unter dem er ihrer beider Liebesbeziehung
sieht: «Du sollst zum Aug der Fremden sagen: Sei das Wasser! / Du sollst, die du im Wasser weißt, im Aug der Fremden suchen. / Du sollst sie rufen aus dem Wasser: Ruth! Noemi! Mirjam! / Du sollst sie schmücken,wenn du bei der Fremden liegst. / Du sollst sie schmücken mit dem Wolkenhaar der Fremden. /Du sollst zu Ruth, zu Mirjam und Noemi sagen: Seht, ich schlaf bei ihr! /Du sollst die Fremde neben dir am schönsten schmücken. / Du sollst sie schmücken mit dem Schmerz um Ruth, um Mirjam und Noemi. / Du sollst zur Fremden sagen: / Sieh, ich schlief bei diesen!»
Die«Fremde» ist Ingeborg Bachmann.In der Wirklichkeit der spätenvierziger Jahre arbeitet sie,Tochter eines österreichischen Nationalsozialisten, an ihrer Dissertation über «Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers», sie schreibt Lyrik und Prosa und ist unterwegs in verschiedenen Kreisen junger Autoren. Als sie auf einer Party im April 1948 dem Dichter Paul Celan begegnet, lebt sie schon seit längerem mit dem jüdischen Literatur und Theaterkritiker Hans Weigel zusammen, einer der Wiener Schlüsselfiguren für die literarische Karriere junger Talente.
Paul Celan wiederum, dessen Gedicht «Todesfuge» im Jahr zuvor in Bukarest erschienen ist, gilt in der Kulturszene der österreichischen Hauptstadt bereits als literarischer Geheimtipp. Gerade erst ist er aus Rumänien– der zweiten Diktatur, die er in seiner kurzen Lebenszeit von innen kennengelernt hat – via Ungarn in den Westen geflohen. Seine Eltern, Verwandte und Freunde wurden in deutschen Konzentrationslagern ermordet, er selbst überlebte das Arbeitslager. Nun soll Ingeborg Bachmann – sein Geburtstagsgedicht
kündigt es an – zu einem Liebes-Medium werden, das die lebendige Verbindung zu seinen Toten stiftet.
Die NS-Vergangenheit, die beide Schriftsteller unter so grundlegend verschiedenen Bedingungen als Jugendliche erlebten, steht damit von Anfang an als ein verbindendes wie trennendes Element zwischen ihnen: Ingeborg Bachmann, der Seite der Täter zugehörig, Paul Celanauf SeitenderOpfer.AndieserBarriere kann
die Beziehung jederzeit zerschellen. Sie wird daran aber ganz allmählich zerrieben werden.

Im ägyptischen Exil
Dabei beginnt alles festlich, heiter, scheinbar unbeschwert. «Der surrealistische Lyriker Paul Celan (…) hat sich herrlicherweise in mich verliebt», berichtet die Studentin ihren Eltern animiert,«und das gibt mir bei meiner öden Arbeiterei doch etwas Würze. Leide rmuß er in einem Monat nach Paris. Mein Zimmer ist momentan
ein Mohnfeld, da er mich mit dieser Blumensorte zu überschütten beliebt.» Einige Tage später wird sie die Geschenke aufzählen,die der (noch nicht wirklich) «berühmte Lyriker» ihr zu ihrem Festtag gebracht hat: «zwei prächtige Bände moderne franz.Malerei mit den letzten Werken von Matisse und Cézanne, ein Band Chesterton (ein berühmter engl.Dichter), Blumen, Zigaretten, ein Gedicht, das mir gehören soll, ein Bild, das ich Euch in den Ferien zeigen kann» – ein Foto, das Paul Celan zeigt, vor einem aufgeschlagenen Buch sitzend.Da er am Tag nach ihrem Geburtstag nach Paris aufbrechen wird, gehen die beiden noch einmal «sehr festlich» aus,«Abendessen und ein wenig Wein trinken».
Dass es so gelöst nicht bleiben wird – und wohl auch während der wenigen gemeinsamen Wochen in Wien nicht alleweil so war– ,hat Paul Celan in seinem Widmungs-Gedicht bereits vorweggenommen.Der Mann im«ägyptischen» Exil lebt aus dem Gedenken an dieToten. Sie sind der Grundantrieb seines Schreibens, und in seiner Nähe kann keiner lange sein, der an dem Totengespräch nicht teilnähme: der dabei nicht den Platz einnähme, den der Dichter ihm zu gedacht hat. Im Falle Ingeborg Bachmanns ist dies die für beide schmerzhafte Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

«Verbannt und Verloren / waren daheim»
Es wird fast ein Jahrzehnt brauchen, über Trennungen, Kränkungen,Missverständnisse, wechselseitige Vorwürfe und ein Jahre andauerndes Schweigen hinweg, bis der inzwischen tatsächlich zu Ruhm gekommene Lyriker am 31.Oktober1957 aus Paris an Ingeborg Bachmann schreibt: «Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich:das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinander treten, Ingeborg. Denk an ‹In Ägypten›. Sooft ich’s lese, seh ich Dich in dieses Gedicht treten: Du bist der Lebensgrund, auch deshalb, weil Du die Rechtfertigung meines Sprechens bist und bleibst» – soeben hat ihre Liebesbeziehung nach der zufälligen Wiederbegegnung auf einer Tagung zum zweiten Mal begonnen.
Paul Celans Gedicht «Köln, Am Hof», das im Oktober 1957 entstand und das er wiederum Bachmann zueignet, beginnt mit dem Wort «Herzzeit».Das in der Zwischenzeit unglückselig auseinander getriebene Paar erscheint darin als «Geträumte», die Mittelstrophe fasst als Zwischenbilanz: «Verbannt und Verloren / waren daheim» –fragiler Glückszustand zweier Versehrter, der auch wieder nur wenige Monate andauern sollte.
Und dies nicht nur,wei lPaul Celan sich mit der aus dem französischen Hochadel stammenden Künstlerin Gisèle Lestrange und dem1955 geborenen Sohn Eric längst ein «Daheim» in Paris geschaffen hatte, während Ingeborg Bachmann vom Herbst 1958 an in Zürich mit Max Frisch zusammenleben wird.Vielmehr scheint es nach der Lektüre ihrer Briefe, als sei für den «Verbannten» und die «Verlorene» ein stützendes, schützendes und darin haltbares «Daheim» ohnedies nur zu träumen gewesen.
Gedichte, die aufeinander antworten
Dass all dies nun nachlesbar und in seinem teils abenteuerlich wechselvollen Verlauf zu verfolgen ist, verdanken wir einem Band, der die Korrespondenz beider Autoren aus den Jahren von 1948 bis 1967 offen legt und das Auftakt-Wort des Celan-Gedichts «Köln, Am Hof» im Titel trägt: «Herzzeit». Überraschende Einsichten hält er in ganz verschiedener Hinsicht bereit.Denn,zuallererst: Wer hätte glauben mögen, dass die Briefe zwischen Ingeborg Bachmann und Pau lCelan vor Ablauf der noch Jahrzehnte währenden Sperrfrist freigegeben werden würden– führen sie doch, anders als der 2004 erschienene Briefwechsel mit Hans Werner Henze (siehe LITERATUREN 5/2004), mindestens in die Randzonen des mit einem ehernen Schweigegebot belegten Zusammenlebens von Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Hier nun figuriert Frisch sogar zeitweilig als Akteur, der mit dem von Verfolgungsängsten heimgesuchten Paul Celan in brieflichen Austausch tritt (und darüber einmal fast die Beziehung zu seiner zeitweiligen Lebensgefährtin riskiert).
Ebenso wenig aber hätten Bachmann- und Celan-Leser sich wohl träumen lassen, wie dicht in bestimmten Lebensphasen die Gedichte des einen und der anderen miteinander verknüpft waren, wie konkret beide in ihrer Lyrik auf gemeinsame Erlebnisse,Orte und Situationen reagierten: Die «Flaschenpost», als die Paul Celan seine Gedichte verstand, fandhier ihre direkteAdressatin. Wenn andererseits Ingeborg Bachmann den wiedergefundenen Geliebten im Herbst 1957 bittet, «die ‹Lieder auf der Flucht› noch einmal zu lesen», und hinzufügt: «In jenem Winter vor zwei Jahren bin ich am Ende gewesen und habe die Verwerfung angenommen», so wird unübersehbar, dass beider literarischeTexte sich auch dann noch aufeinander bezogen, wenn die Autoren selbst ihre Beziehung schon erloschen glaubten.
Celan freilich kannte die «Lieder auf der Flucht». 1956 hatte er sich Bachmanns zweiten Gedichtband «Anrufung des großen Bären» gekauft, und es ist danach mehr als wahrscheinlich, dass sein im Sommer 1957 in Wien unweit der früheren Bachmann- Wohnung entstandenes Gedicht «Sprachgitter» auch auf dieseTexte antwortete. Er schließt darin zwei «Fremde» in einer so innigen wie schaurigen Verbindung zusammen,die Zeichen des Holocaust sind unübersehbar: «Die Fliesen.Darauf, / Dicht beieinander, die beiden / herzgrauen Lachen: / zwei / Mundvoll Schweigen.»
Haltet den Dieb!
Eine letzte frappierende Erkenntnis löst der Briefband schließlich dadurch aus, dass er das Fortleben antisemitischer Strömungen in der bundesrepublikanischen Literaturszene noch bis in die spätensechziger Jahre hinein sichtbar macht. Dass Paul Celan im Frühjahr 1952 bei dem– von Ingeborg Bachmann arrangierten – Auftritt vor derGruppe 47 für seine Lesung der «Todesfuge» verhöhnt wurde,war bekannt (dem Lyriker blieben von diesem Ereignis «patentierte Antinazis wie Böll
oderAndersch» im Gedächtnis).Doch zog sich,wieman in «Herzzeit» nun verfolgen kann, die antisemitische Spur noch weiter und mündete schließlich in den Versuch, die Existenz des Autors endgültig zu untergraben. Diese Linie verlief von einer antijüdischen Karikatur, die 1958 nach einer Lesung Celans in Bonn zirkulierte, über die mit einschlägigen Sprach- und Denkmustern operierende «Sprachgitter»-Rezension des Kritikers Günter Blöcker bis zum mehrmaligen Aufflammen der sogenannten Goll-Affaire: Sowohl vor der Verleihung des Bremer Literaturpreises imJahr 1958 als auch nach der Zuerkennung des Büchnerpreises zwei Jahre darauf wurde Celan des literarischen Plagiats bezichtigt.
Anfang der fünfziger Jahre bereits hatte die Autorin Claire Goll das Gerücht in die Welt gesetzt, Paul Celan, der ihrem Ehemann als Übersetzer gedient und in ihrem Pariser Haus einst ein Manuskript mit seinen eigenen Gedichten zurückgelassen hatte, habe Yvan Golls Lyrik als seine eigene ausgegeben. In Wahrheit verhielt es sich, wie der in diesen Dingen präzise Herausgeberkommentar vermerkt, gerade andersherum: Claire Goll war es, die Celan-Gedichte unter dem Namen ihres Mannes veröffentlicht hatte und nun versuchte, sich nach der Methode «Haltet den Dieb!» aus der Gefahrenzone zu bringen (siehe LITERATUREN 12/2000).
Einflussreiche Häupter des deutschen und französischen Kulturbetriebs machten Golls Verleumdung zu ihrer Sache und versuchten Celan dabei nach einem wohlvertrauten antisemitischen Stereotyp ins literarische Abseits zu stellen – es war noch nicht lange her, dass es allgemein als Wesenszug der «jüdischen
Rasse» gegolten hatte, sich an fremdem Eigentum zu bereichern und die Mitwelt über seine wahre Identität zu täuschen.
Eine treue Freundin
Es brauchte einer psychisch gar nicht derart gefährdet zu sein wie Paul Celan, um aufgrund der massiven Kampagne, der wirkungsvoll entgegenzutreten sich als überaus schwierig erwies, an den Rand des seelischen Gleichgewichts zu geraten. Auch hier wieder war es Ingeborg Bachmann, die für den Freund einstand und alle Hebel in Bewegung setzte, die sie im Kulturbetrieb irgend betätigen konnte – dabei hatte auch sie selbst, die Briefe zeigen es, unter dem immer sprungbereiten Misstrauen Celans zu leiden.
Schon weit vor der Eskalation der Goll-Affaire nämlich war in der Liebesbeziehung der jungen Lyriker ein Muster deutlich geworden, das sich in den kommenden Jahrzehnten immer wieder zur Geltung brachte.Da war zumeinen die selbstverständliche Erwartung Celans, die Freundin werde sich innerhalb des Betriebs stets und unter allen Umständen für ihn und sein Werk einsetzen; was diese von Anfang an auch tat, unbeirrbar selbst nach dem kurzzeitigen, im Herbst 1950 «strindbergisch» gescheiterten Versuch der beiden, in Paris als Dichter-Paar zusammenzuleben.
Was immer Bachmann, die ihrerseits noch um einen Platz in der literarischen Szene zu kämpfen hatte, an Publikationsmöglichkeiten und Auftritten für den ehemaligen Liebhaber auftat, einfädelte und vorantrieb, Celan nahm es unkommentiert hin. Wie überhaupt sie in den Briefen zwischen 1948 und 1953 diejenige ist, die über alle Kränkungen und Verletzungen hinweg den Kontakt aufrechterhält, ihm ihre Veröffentlichungen schickt (die er nicht liest oder doch niemals erwähnt), die ihm Türen zu öffnen und das Funktionieren des Literaturbetriebs einsichtig zumachen versucht.
Ein Gespenst namens Betrieb
Er, im Gegenzug, mahnt mit überlegenem Gestus, die Freundin möge sich auf diese Zirkulationssphäre von Namen und Positionen nur nicht zu sehr einlassen. Früh schon kritisiert er ihre Fixierung auf «Erfolg» und hält ihr imJuli 1951 vor,es im Leben bislang doch wahrhaftig leichter als andere gehabt zu haben: «Keine der Türen ist Dir verschlossen geblieben, und immer wieder tut sich Dir eine neue Tür auf.»Die väterliche Schlussfolgerung: «Sei nun ein wenig sparsamer mit Deinen Ansprüchen.»
Folglich dauert es nicht lange, bis sich in ihm der Verdacht regt, die karriere orientierte Dichterin sei bereits zu tief verstrickt ins Betriebsgeschehen. Nur deshalb habe sie ihn nach seiner Lesung vor derGruppe 47 in Niendorf (wo auch Bachmann ihre Premiere hatte) nicht entschieden genug gegen die antisemitisch grundierte Kritik verteidigt; aus demselben Grund auch habe sie auf seine Analyse der ersten Goll-Angriffe abwiegelnd reagiert. Sechs Jahre später wird er die Literaturbetriebsvernetzung der Freundin als Ursache dafür ansehen, dass sie die Attacke des Kritikers Blöcker nicht als primär antisemitisch motivierte Attacke versteht und seiner Sicht ihre eigenen negativen Erfahrungen mit der Literaturkritik im Allgemeinen und diesem Kritiker im Besonderen entgegenhält.
Dass Celan Bachmann unterstellt, sich zum eigenen Schutz auf dem Höhepunkt derGoll-Affaire bedeckt gehalten zu haben, lässt ihre Beziehung schließlich eingehen. Denn genau das Gegenteil ist wahr,der Kommentar zu den Briefen weist es nach: Ingeborg Bachmann hat Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre bis in die Feuilletonredaktion der «Zeit» hinein Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt,um der Desavouierung ihres Freundes ein Ende zu machen.
«Du willst das Opfer sein»
Die große, überschäumende Liebe, die für beide überraschend im Herbst 1957 neu beginnt – und nun ist es Paul Celan,der um Ingeborg Bachmann wirbt, sie scheint eher vorsichtig, abwartend –, diese Liebe, die er mit einer Flut für die Geliebte geschriebener Gedichte schmückt und mit Briefen, Blumen, Telegrammen und Büchern unterfüttert, auch sie dauert nur wenige Monate. Lakonisch vermerken die Herausgeber: «Genau zehn Jahre nach ihrer Wiener Begegnung scheint das Treffen (im Mai 1958 bei Bachmann in München, F.M.-G.) mit einer Änderung im Charakter ihrer Beziehung zusammen zufallen.» Außer dass Ingeborg Bachmann schon zu Beginn der zweiten Verliebtheit darauf bestanden hatte: «Du darfst sie und Euer Kind nicht verlassen», sind konkrete Gründe für den raschen Umschwung hier nicht auszumachen. Als sie und Max Frisch ziemlich genau ein Jahr nach der stürmischen Wiederbegegnung mit Paul Celan beschließen, in Zürich zusammenzuleben, scheint sich für eine Weile eine freundschaftliche Beziehung der Paare anzubahnen.Doch auch diese Phase endet unter wechselseitiger Kränkung und Enttäuschung. Celan nämlich, von der Freundin in der Goll-Affaire vermeintlich im Stich gelassen, nutzt nun sein eigenes Netzwerk, um Bachmann unter Kollegen zu verunglimpfen; diese,mittlerweile ebenfalls überempfindlich, sieht sich vom früheren Geliebten in einem Gedicht des «Mordes» bezichtigt. In einem grundsätzlichen Brief versucht sie im September 1961 ihre fast anderthalb Jahrzehnte währende Beziehungserfahrung mit dem Lyriker zu resümieren: «Ich glaube wirklich, dass das größere Unglück in Dir selber ist (…) Du willst das Opfer sein, aber es liegt an Dir, es nicht zu sein.» Nehme er aber die Opferrolle an,die andere ihm aufzudrängen versuchten, dann sei dies «Deine Geschichte, und das wird nicht meine Geschichte sein». Alles mündet in die verzweifelte Frage: «Wer bin ich für Dich, wer nach soviel Jahren?»
Paul Celan erhält keine Gelegenheit, sie zu beantworten – der Brief wird 60 nicht abgeschickt.
Es zittern die morschen Knochen
Der direkte Kontakt endet mit dem Jahr 1961. Auf zwei spätere Versuche Celans, die Verbindung wieder aufzunehmen, kommt von Ingeborg Bachmann keine Antwort mehr. Beide waren in der Zwischenzeit existentielle psychische Krisen geraten, wiederholte Klinik-Aufenthalte wurden unvermeidlich – für beide nur ein Aufschub von mittlerer Dauer. Am 20.April 1970 ertränkte sich Paul Celan in der Seine, Ingeborg Bachmann starb am 17.Oktober 1973 nach einem Brandunfall in einem römischen Hospital.
Freilich zeigt der letzte kurze Brief des früheren Freundes, dass das innere Nähe verhältnis selbst die Schweigejahre überlebt hatte.Ende Juli 1967 bedankt sich Celan für die Empfehlung Bachmanns an ihren Hausverlag, ihn als «kongenialen Übersetzer» der russischen Lyrikerin Anna Achmatowa unter Vertrag zu nehmen. Als die Übersetzung statt seiner Hans Baumann, dem Verfasser des NS-Kampflieds «Es zittern die morschen Knochen», übertragen wird, beendet Bachmann ihre Zusammenarbeit mit dem Piper Verlag; ihr Roman «Malina» erschien1971 in Siegfried Unselds Suhrkamp Verlag.
Zwei von Anfang an gegenwärtige Motive erstrecken sich damit noch weit über das faktische Ende der Liebesbeziehung hinaus: die fraglose Unterstützung der Dichterin für den schutzbedürftigen Freund; und die Konfrontation beider mit der aggressiven Unempfindlichkeit der Deutschen ihrer eigenen Geschichte wie deren Opfern gegenüber.
Flaschenpost an einen Toten
Zuletzt blieb,wie könnte es anders sein, die Literatur: nun als Flaschenpost an einen Toten. Nach der Nachricht vom Selbstmord Paul Celans fügte Ingeborg Bachmann in ihre bereits abgeschlossene Reinschrift des «Malina»-Romans noch eine Geschichte ein – das Märchen der «Prinzessin von Kagran», die symbolisch verdichtete Erzählung einer unausweichlich heillosen Liebe. In ihrer letzten Erzählung «Drei Wege zum See» schließlich ist es ein literarischer Wiedergänger Paul Celans, der das Leben der weiblichen Hauptfigur auf eine Bahn lenkt, von der es kein Entweichen mehr gibt: «… weil er, ein wirklich Exilierter und Verlorener, sie, eine Abenteurerin, die sich wer weiß was für ihr Leben von der Welt erhoffte, in eine Exilierte verwandelte,weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang.»
In der Lebensgeschichte Ingeborg Bachmanns und Paul Celans nicht anders als in ihrem Werk ist es die deutsche Gewalt-Geschichte des 20. Jahrhunderts, kulminierend in der Shoah, die dem Einzelnen die Existenzmöglichkeit abschneidet. Dass ein Band mit Briefen dies lesbar, sichtbar und fühlbar macht, ist sein einzigartiges Verdienst.

Von FRAUKE MEYER-GOSAU, Redakteurin dieser Zeitschrift, erschien soeben der Band «Einmal muss das Fest ja kommen. Eine Reise zu Ingeborg Bachmann»

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