Was geschah an jenem 14. März 1950?

FAZ

Der Polizeivermerk

Der Gesuchte traf um 20 Uhr ein

Bezirkspolizeiwache 6 Abteilung II Prag 6

Prag, am 14. 3. 1950

Vermerk:

Am heutigen Tag um 16 Uhr kam zur hiesigen Abteilung der Studierende Milan Kundera, geboren am 1. 4. 1929 in Brünn, wohnhaft in Prag 7, Studentenkolleg, König-Georg-Straße 6, und zeigte an, dass in diesem Kolleg die Studentin Iva Militká wohnt und dass sie dem Studenten Dlask aus demselben Wohnheim erzählt habe, dass sie an diesem Tag in Prag-Klarov einen Bekannten getroffen habe, einen gewissen Miroslav Dvoracek. Dieser soll ihr einen Koffer zur Aufbewahrung gegeben haben, den er am Nachmittag des 14. 3. 1950 abholen werde. Aufgrund dieser Meldung begab sich Oberwachtmeister Rosicky gemeinsam mit Wachtmeister Hanton an den Ort, wo sie den Koffer untersuchten, in dem sich 2 Hüte, 2 Paar Handschuhe, 2 Sonnenbrillen und eine Cremedose befanden. Nach der Angabe der Militká sei Dvoracek von der Armee desertiert und habe sich vielleicht seit Frühjahr vorigen Jahres in Deutschland aufgehalten, wohin er illegal gegangen sei. Die Suche im Fahndungsbuch ergab, dass er schon vom Nationalen Sicherheitskomitee Pilsen unter der Aktenzahl 2434/49-IV zur Festnahme gesucht wird. Aufgrund dessen blieben die oben genannten Polizeibeamten im Studentenheim und bewachten das Zimmer der genannten Militká. Um 20 Uhr traf der genannte Dvoracek tatsächlich in diesem Zimmer ein und wurde festgenommen. Bei seiner persönlichen Durchsuchung wurde ein Personalausweis auf den Namen Miroslav Petr gefunden, von dem Dvoracek angab, dass er ihn in Deutschland von einer gewissen Firma erhalten habe, die ihn in die Tschechoslowakei mit dem Auftrag entsandte, Geschäftsbeziehungen zwischen dieser Firma und dem Ministerium für Technik aufzunehmen. Derselbe Mann sollte Kontakt herstellen zu einem gewissen Ing. Solman aus Vrsovic, Tolstoi-Gasse Nr. 4, der in diesem Ministerium beschäftigt ist.

(gez.)

Jaroslav Kosicky

Wie zuverlässig ist das Dokument, aus dem hervorgeht, dass Milan Kundera in seiner Prager Studentenzeit im Jahre 1950 einen Kurier der antikommunistischen Widerstandsbewegung bei der Polizei angezeigt hat?
Seit die Prager Wochenzeitung „Respekt“ und die F.A.Z. (Erinnerung und Geschichte: Verrat in Zeiten des Kommunismus) über die Ergebnisse der Recherchen des jungen Historikers Adam Hradílek berichteten, ist in Prag eine heftige Kontroverse in Gang.
Könnte es sich um eine Fälschung handeln? Könnte ein anderer die Anzeige unter Kunderas Namen erstattet haben? Handelt es sich um eine von Neid gespeiste Intrige, um die moralische Autorität des weltweit bekanntesten tschechischen Schriftstellers zu zerstören, und dies auch noch in der Woche der Frankfurter Buchmesse?
Der Faszikel, in dem der Polizeivermerk über die Denunziation Milan Kunderas enthalten ist, umfasst zweiundzwanzig Seiten. Er trägt die Nummer V 2051, unter der die Akte über den damals zweiundzwanzig Jahre alten Häftling Miroslav Dvorácek im Prager Innenministerium angelegt wurde.

Milan Kundera: Schrift gegen Wort

Kulturzeit

Kommentare