Milan Kundera ~ Verrat in Zeiten des Kommunismus

Das Buch des Verrats in den Zeiten des Kommunismus ist um ein Kapitel reicher: Im März 1950 hat der Schriftsteller Milan Kundera, damals Student in Prag, einen Aktivisten des antikommunistischen Widerstandes angezeigt. Das Opfer, der damals 22 Jahre alte Miroslav Dvoek, wurde festgenommen und zu 22 Jahren schweren Kerkers verurteilt. Der Staatsanwalt hatte die Todesstrafe gefordert.
Milan Kundera zählte in den sechziger Jahren zu den prominentesten Weggefährten des Reformkommunismus. Nach der sowjetischen Besetzung der Tschechoslowakei erhielt er 1970 Schreibverbot. Er emigrierte nach Frankreich, wurde ausgebürgert und nahm die französische Staatsbürgerschaft an. Kundera gehört zu den großen Schweigern der zeitgenössischen Literatur. Interviews gewährt er äußerst selten, und auch dann beantwortet er nur schriftliche und keine persönlichen Fragen. In die Tschechische Republik reist er selten und nur anonym. Diese Verschlossenheit wurde bisher seinem Charakter und seiner Medienscheu zugeschrieben. Sie könnte jedoch auch auf den Sündenfall am 14. März 1950 zurückzuführen sein, meint der junge tschechische Historiker Adam Hradilek.
Adam Hradilek arbeitet am Prager Institut für das Studium der totalitären Regime, das der deutschen Birthler-Behörde entspricht. Er leitet dort das Projekt „Erinnerung und Geschichte“, das die Aussagen von Zeitzeugen sammelt und mit den Archivbeständen vergleicht. Dabei entdeckte er ein Dokument, das es ihm ermöglichte, etwas zu enthüllen, von dem Milan Kundera bisher annehmen konnte, dass es nur noch ihm bekannt sei. Die Geschichte schildert Hradilek in einem ausführlichen Bericht, der am Montag in der tschechischen Wochenzeitschrift „Respekt“ und auf der Website seines Instituts (www.ustrcr.cz) erscheinen wird. Im Mittelpunkt steht eine entfernte Verwandte Hradileks, die heute 79 Jahre alte Iva Militka, die seit 58 Jahren darunter leidet, für die Verhaftung Miroslav Dvoeks verantwortlich gewesen zu sein – zu Unrecht, wie sich nun herausstellt.
Miroslav Dvoek und Iva Militks damaliger Freund Miroslav Juppa hatten sich 1947 auf der Akademie der Luftwaffe in Königgrätz (Hradec Kralové) eingeschrieben. Sie wollten Piloten werden. Nach dem kommunistischen Putsch wurde ihr Lehrgang aufgelöst. Dvoek und Juppa flüchteten nach Bayern, wo sie der legendäre ehemalige tschechoslowakische Geheimdienstchef František Moravec für die Mitarbeit an seinem von den Amerikanern unterstützten „tschechoslowakischen Nachrichtendienst“ gewann. Dvoek sollte als Kurier Kontakt zu einem Ingenieur aufnehmen, von dem sich Moravec Informationen über die chemische Industrie erhoffte.
Einen ersten Aufenthalt in Prag musste er Ende 1949 ergebnislos abbrechen. Am 13. März überschritt er in der Nähe von Furth im Walde abermals die Grenze und übernachtete im Forsthaus der Familie Touš, die auch zahlreiche andere antikommunistische Widerstandskämpfer unterstützte. Am 14. März kam er in Prag an, wo er zufällig Iva Militk traf, die dort in einem Studentenheim wohnte und mittlerweile mit dem kommunistischen Studenten Miroslav Dlask liiert war, ihrem späteren Ehemann. Die junge, nach eigenem Urteil damals politisch sehr naive Frau freute sich, ihn wiederzusehen. Er bat sie, bei ihr übernachten zu dürfen. Dann machte er sich auf die Suche nach dem Ingenieur, die abermals ergebnislos verlief. Als Dvoek am Abend im Studentenheim eintraf, wurde er verhaftet.
Dvoek lebt heute in Schweden. Er ist bis heute der Meinung, Iva Militk habe ihn verraten. Ein Gespräch mit Adam Hradilek lehnte er ab. Die Ergebnisse der Recherchen des Historikers dürften ihn vermutlich ebenso überraschen wie Milan Kundera, der Dvoek bei der Polizei denunziert hatte. Die Anzeige, Dvoek werde im Studentenheim eintreffen, hatte Milan Kundera am 14. März um 16 Uhr bei einer Polizeistation in Prag 6 erstattet. Sie trägt die Aktenziffer 624/1950-II. Kundera war mit Dlask befreundet. Die arglose Iva Militk hatte ihren Freund gebeten, er möge diesen Abend nicht zu ihr kommen, weil Dvoek bei ihr übernachte. Dlask, der wusste, dass sich Dvoek und Juppa in den Westen abgesetzt hatten, gab die Information an Kundera weiter.
Aus Eifersucht? Vielleicht, aber warum hatte er dann nicht gleich selbst Anzeige erstattet? Der hochbegabte Milan Kundera war zwar ein überzeugter Kommunist, aber kein Mann des Apparates und gewiss keiner, den sich die Partei für die Schmutzarbeit ausgesucht hätte. Kundera hatte im Gegenteil selbst Probleme. Gemeinsam mit seinen Freunden Jaroslav Dewetter und Jan Trefulka war er wegen kritischer Äußerungen über einen hohen Funktionär aus der Partei ausgeschlossen worden und musste befürchten, auch von der Filmakademie relegiert zu werden. Tatsächlich wurden Dewetter und Trefulka von der Hochschule gejagt, Kundera aber blieb. Als Miroslav Dvoek nach 14 Jahren Haft und Zwangsarbeit im Uranabbau 1963 endlich freikam, stellten die Buchläden gerade Kunderas „Buch der lächerlichen Liebe“ in die Auslage, eine Sammlung von Erzählungen, die ihren Autor in die erste Reihe der tschechischen Literatur rücken sollte.
Kundera musste wissen, mit welcher Härte das Regime gegen Dvoek vorgehen würde. Es herrschte schlimmster Stalinismus, ein Schauprozess folgte auf den anderen, und in den Straflagern waren mehr als 10.000 Regimegegner inhaftiert. Von den 500 entdeckten Kurieren der Widerstandsbewegung wurden mehr als 20 gehenkt, die anderen erhielten Haftstrafen von zwölf Jahren bis lebenslang. Die Zeitungen berichteten ausführlich über den Kampf gegen „Verräter und Agenten des Imperialismus“. Nach dem Urteil gegen Dvoek nahm sich das Regime die Familie Touš vor, die ihm geholfen hatte. Alle erhielten lange Haftstrafen. Ein Helfer, der Kuriere über die Grenze gebracht hatte, wurde gehenkt.
Miroslav Dlask ist tot, er hatte sich bis zuletzt geweigert, seiner Frau die Hintergründe der Verhaftung Dvoeks zu enthüllen. Kunderas protokollierte Denunziation entging vermutlich sogar dem Staatssicherheitsdienst StB, der in der Periode der „Normalisierung“ Material sammelte, um dem dissidenten Schriftsteller zu schaden. Und Kundera schweigt bis heute. Ein Fax, das ihm Hradilek nach Paris schickte, blieb unbeantwortet. Ob er jetzt wohl sprechen wird?
FAZ

Rückblick auf den Prager Frühling

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