Kuss der Mutter

Nach allem, all´ den Jahren und allen Schicksalsschlägen, bewahrte er noch die Schachtel. Andenken und unschuldiger Raum, einfach fest in der Zeit.
Weit über siebzig Jahre sind vergangen.
Die Zeit hatte auf ihn die Wirkung wie steter Tropfen Wasser auf einen Fels ausgeübt - aber er hatte nicht die Härte des Steines.
Die Jahrzehnte waren langsam vergangen und im Laufe der Zeit, er immer mehr der Welt abgewandt, setzte sich das Leben länger als ein halbes Jahrhundert fort. Der richtige Augenblick war da; übriggeblieben war nur, und das war mehr als genug, die Schachtel mit dem in den Metalldeckel eingravierten Herz As.
Gealtert, verwittert, aber wirklich die Wehmut des Lebens in sich tragend nahm er zitternd die mit schwarzem Klebeband versiegelte Schachtel.
Seine Frau, in verschwommener Erinnerung, verweilte stets in seinen Gesten als Teil von ihm, aber unbeachtet. Die Kinder, ihm alle durch den Tod genommen, waren begraben in der Tiefe seiner Seele. Für ihn waren sie nicht gestorben, sondern eingeschlafen am Ende der Ewigkeit.
Eines Tages bat er seine Mutter hartnäckig um einen Kuss in künftiger Zeit. Die Mutter, erstaunt, gab ihm einen Kuss auf die Stirn, einen Kuss in der Gegenwart. Nein, nein einen Kuss in vielen Jahren, wenn seine Mutter nicht mehr in der Lage sei, ihn körperlich zu geben.
- Mutter, gib mir einen Kuss für die künftige Zeit, heute in vielen Jahren! Gibst du ihn mir, Mutter?
Den Tag darauf, entschied sie sich also, und gab dem Sohn einen Kuss, einen Kuss für die kommende Zeit. Darauf schloss sie sofort die Schachtel, dass dieser nicht in der Luft der gegenwärtigen Zeit verloren ginge. Es war so, wie es sich ihr Sohn wünschte.
Jener Kuss in der Schachtel war mit derselben Inbrunst gegeben, derselben aller Tage, ehe der Sohn schlief, wenn sie sein Bett besuchte und ihm die Stirn mit dieser Prägung der Liebe zeichnete. Er, in Laken gehüllt, schlief die ganze Nacht mit der Anwesenheit der Mutter auf der Stirn, ihn wiegend als sei er noch ein Baby.
Die Jahre hatten veranlasst, dass seine Mutter keinen körperlichen Kuss mehr geben konnte. Er selbst gab seinen Kindern viele Küsse, sie beiläufig wiegend, als wenn sie noch Babies wären, aber nie mit der selben Echtheit der Liebe wie sie seine Mutter ihm vor langer Zeit gab, Küsse der Wiege.
An diesem Tag war er allein und schon vom Leben geschwäscht, auf den Tod wartend. Es war Nacht und nur eine Leuchte glänzte im ganzen Haus, bedeckt von Staub.
Der Sohn, der schon Vater und Ehemann war, und jetzt gar nichts war, ließ sich auf das Bett nieder, zog langsam die Pantoffeln aus, die er gerade nebeneinander stellte.
Danach legte, er sich einrollend, auf die Laken nieder, als sei er ein Baby. Die Schachtel war da.
Mit seinen schmalen Händen, an denen alle Venen zu sehen waren, kratzte er am schwarzen Klebeband, um es in Ruhe zu entfernen. Er empfing den Kuss seiner Mutter.
Am folgenden Tag, als die Hausangestellte das Zimmer betrat, fand sie ihn tot neben einer geöffneten Schachtel, doch mit dem Lächeln eines Schlafenden, gewiegt durch den Kuss seiner Mutter.

Afonso Reis Cabral

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