In seinem Roman "Das Museum der Unschuld" versucht der türkische Schriftsteller den fleischlichen Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne

Die "unsichere türkische Identität" sei ein großartiges Material für einen Schriftsteller, hat Orhan Pamuk einmal gesagt. Das Gefühl der Erniedrigung durch den Westen und der daraus erwachsende nationalistische Stolz, die durch Atatürks abrupte Modernisierung hervorgerufene Scham über die ältere türkische, die osmanische und islamische Kultur sowie die Wut über eben diese Scham - all das lässt die Romanfiguren des türkischen Literaturnobelpreisträgers Unglaubliches durchleben: In "Schnee", "Rot ist mein Name", "Das schwarze Buch", "Das neue Leben" oder "Die weiße Festung" werden sie schmerzhaft hin- und hergerissen zwischen Westen und Osten, Eigenem und Fremdem, Gegenwart und Vergangenheit, Populärem und Verstiegenem.
Auch Pamuks neues Buch "Das Museum der Unschuld" erkundet die türkische Seele - aber der grandiose, mit allen Wassern der Postmoderne gewaschene Fabulierer nimmt sich diesmal zurück und erzählt ruhig, sehr ruhig vom Alltag. An die Stelle des von Pamuk verehrten Dostojewski scheint Stifter getreten zu sein.
Der reiche Kemal Besmaci steht 1976 kurz vor der Verlobung mit Sibel, freut sich aber noch mehr auf die Stunden mit Füsun, einer schönen achtzehnjährigen Verkäuferin und entfernten Verwandten, mit der der Dreißigjährige regelmäßig im ungenutzten Appartement seiner Mutter zum Schäferstündchen zusammenkommt. Das kurze Glück endet nach der Verlobungsfeier, weil Füsun plötzlich verschwindet. Kemal wird schwermütig, sodass Sibel schließlich die Verlobung auflöst. Dann meldet sich Füsun wieder, die mit ihrem Ehemann bei Vater und Mutter lebt, und Kemal besucht sie und die Eltern acht Jahre lang vier Abende in der Woche, an denen er die Geliebte ansehen und sprechen, aber nicht küssen und berühren darf. 1984 will Füsun endlich Kemals Ehefrau werden, verbringt eine Nacht mit ihm und steuert am Morgen das Auto gegen einen Baum. Sie stirbt, ihr Beifahrer Kemal überlebt - und beschließt, seiner Liebe ein Museum zu errichten.
Was sich in der knappen Zusammenfassung noch recht dramatisch anhört, besitzt auf nicht weniger als 560 Seiten erhebliche Längen. Die Höhenflüge des Traumtänzers Kemal, der Familien- und sexuelles Glück nicht erst in der Ehe, sondern schon vor der Verlobung auf zwei Frauen verteilt, sind noch voll fesselnder Intensität. Sibels erfolglose Versuche, ihren Verlobten in der Sommervilla am Bosporus von der Melancholie zu heilen, ziehen sich bereits beträchtlich hin. Immerhin erlauben die Bräuche der Istanbuler Jeunesse dorée, die in den elterlichen Firmen Führungsposten bekleidet, aber das Arbeitszimmer am Liebsten für Schäferstündchen nutzt, eine ungewöhnliche Sicht auf die türkische Geschichte. Die jungen Reichen feiern ausgelassene Parties, essen in teuren Restaurants, fahren in Paps feinem Automobil durch Istanbul und suchen Luxusbordelle auf, während, von ihnen kaum wahrgenommen, zahlreiche linke und rechte Attentate die Republik erschüttern. Denn Ende der siebziger Jahre stand ein Drittel der Türkei unter Kriegsrecht.
Der dritte Teil des Buchs vermittelt dann nicht selten den Eindruck, jedem der 1593 Abende beiwohnen zu müssen, die Kemal in der Nähe Füsuns verbringt. Die Welt draußen bleibt weiterhin ausgeblendet, Kemal erwähnt den Militärputsch von 1980 nur deshalb (und gleich zweimal, was den Eindruck quälenden Stillstands vertieft), weil er sich über die Ausgangssperre ärgert. Sie behindert nämlich seine abendlichen Besuche bei Füsun und ihren Eltern (der Ehemann ist glücklicherweise immer unterwegs). Dass seine Angebetete Schauspielerin werden will, verhindert Kemal, der die Filmszene als korrupt und verdorben erlebt, mit aller Kraft der Trägheit. Mögen ihn seine Freunde auch belächeln, er will nichts weiter, als im Wohnzimmer der Verwandten sitzen und Füsun nahe sein.
Stellenweise wird diese "achtjährige Liebesfron" zur Lektürefron. Die Füsun-Monomanie des Ich-Erzählers, seine selbstverliebte Lethargie und der betuliche Predigerton können einem nämlich gelegentlich auf die Nerven gehen. Zumal der Roman nach einer Rückblende am Anfang strikt geradlinig voranschreitet, und Kemal seinen Blick unablässig nur auf die Geliebte und das eigene Leiden richtet. Erst am Ende, als sich ein gewisser Orhan Pamuk mit einem frischen "Hallo!" als Aufschreiber von Kemals Erinnerungen zu erkennen gibt und manchen selbstreflexiven Scherz treibt, kommt ein frischer Wind auf.
Natürlich ist Kemal wie stets bei Pamuk eine allegorische Gestalt: ein Bürger des kemalistischen Staates, modern und zugleich traditionell denkend. Die Widersprüche bündeln sich im Phantasma der Jungfräulichkeit, das im Zentrum des Romans steht. Kemal und seine Freunde ahmen die westliche Lebensweise nach, die sie aus Zeitschriften und Urlaubsreisen zu kennen glauben, auch den Sex vor der Ehe. Aber Männer wie Frauen wissen, dass dem Vergnügen die Ehe folgen muss, um die Ehre zumindest der Frau zu wahren.
In äußerstem Gegensatz zur halbherzig kopierten Libertinage steht die Amour fou zwischen Füsun und Kemal. Jahre zuvor hatten die entfernten Verwandten gemeinsam das Opferfest erlebt, das daran erinnert, wie Abraham auf Geheiß Gottes beinahe seinen Sohn Isaak geopfert hätte, wäre ihm nicht im letzten Augenblick ein Schaf erschienen. Nun lieben Füsun und Kemal einander unbedingt wie Abraham Gott: Sie erfahren die Liebe sogar zweimal, erst in der fleischlichen, dann in der keuschen Variante, und verglichen mit beiden wirken deren Vorbilder, die westlich-moderne und die türkisch-traditionelle Moral, wie blasse Zerrbilder.
Nach acht Anbetungsjahren bekennt Füsun Kemal, ihr Ehemann Feridun sei ihr nie nahgekommen, sie sei eigentlich noch Jungfrau - was, keiner weiß es besser als Kemal, zumindest biologisch nicht stimmen kann. Das Wunder der Verwandlung aber hat sich den Liebenden erschlossen durch den unerschütterlichen Glauben aneinander. Daher soll auch die "Schuld" der vorehelichen Sexualität getilgt sein. Die Unschuld, zeigt Pamuk, ist nämlich gerade kein biologisches Faktum, sondern eine Übereinkunft zwischen Mann und Frau. Die unbedingte Liebe kennt keine Alternative zwischen vorehelichem und ehelichem Sex, zwischen Westen und Osten.
Orhan Pamuk hat in Istanbul ein Haus gekauft und will darin wie seine Romanfigur ein "Museum der Unschuld" einrichten; eine gleichnamige Ausstellung, die in Frankfurt zur Buchmesse und der Präsentation ihres Gastlandes Türkei entstehen sollte, musste er aus Zeitgründen absagen. Das Privatmuseum wird mit Sicherheit eine erstaunliche identitätspolitische Einrichtung, will der berühmte Autor doch in ihm seine Auffassung von einem eigenen türkischen Weg gestalten. Offenbar ähneln sie denen von Kemal.
"Das Museum der Unschuld" soll als Ausstellungskatalog von Kemals Museum dienen. Der Roman erläutert die Exponate, die Füsun berührt hat, die nach ihr riechen oder im Haus ihrer Eltern standen, bis Kemal sie einfach mitgehen ließ, um sich mit ihnen zu trösten: Ohrringe, ein Feuerzeug, Porzellanhunde, mehrere tausend Zigarettenkippen, Speisekarten, ein Salzstreuer, ein Slip, ein Toilettengriff, Kindersocken, die Nachbildung einer Zimmerdecke und vieles mehr. Die nebensächlichen Dinge des Alltags sollen den Museumsbesucher offenbar mit Stolz auf die individuellen Aspekte des türkischen Lebens erfüllen; sie alle gleichzeitig zu sehen, schenke ihm, so hofft Kemal, die Erfahrung der Zeitlosigkeit: die des Glücks. "Der Trost der Dinge" heißt ein Kapitel des jüngsten Romans - ob wir es mit einer Rückkehr der Benjaminschen Liebe zur allegorischen Miniatur zu tun haben?
Das sind weitreichende und anregende Fragen, die ihre Überzeugungskraft auch aus der Säkularisierung der Glaubenserfahrung beziehen. Wie die Leser in der Türkei darauf reagieren, lässt sich noch nicht sagen; das Buch ist in Pamuks Heimat gerade erst erschienen. Ach, wäre die Lektüre des Romans doch nur genauso anregend wie das Nachdenken über ihn!

Orhan Pamuk: "Das Museum der Unschuld." Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2008, 560 S., 24,90 Euro

Orhan Pamuk: Die Arbeit der Liebe

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