Franziska Augstein: Von Treue und Verrat ~ Jorge Semprún und sein Jahrhundert

Jorge Semprún ist durch sein Schreiben ein vom Leben entlasteter Mann. Er kommt dem Traum eines Schriftstellers sehr nahe, "sein Leben lang ein einziges, immer wieder erneuertes Buch zu schreiben". Dieses Leben verweigert sich jeder Vereinfachung: Emigration, Résistance, Gestapo-Folter, KZ Buchenwald, Untergrund gegen Franco, Führungszirkel der spanischen Kommunisten, schmerzvolle Apostasie. In dem Roman "Zwanzig Jahre und ein Tag" gibt der Erzähler zu erkennen, wie schwer es fällt, vor diesem Hintergrund zu schreiben: "Weil ich bei jedem Schritt, bei jeder Seite auf die Wirklichkeit meines eigenen Lebens stoße ... Warum erfinden, wenn du ein so romanhaftes Leben gehabt hast?" Semprún wird wenig "erfinden", die ersten vierzig Jahre seines Lebens geben den nicht versiegenden Stoff. Franziska Augstein widersteht der Versuchung, das Bild des Autors aus seinem Werk zu collagieren. Sie zeigt sich als ideenkritische Historikerin, als Literaturkritikerin hält sie sich zurück. Mit Semprún hat sie über Jahre Gespräche geführt, ohne sich von seiner Aura etwas verstellen zu lassen.
Diese Biografie, die im Understatement ein Porträt genannt wird, ist zugewandt und kritisch zugleich. Es gibt ein Gespür für Maß und Proportion, ohne Widersprüchliches abschätzig zu beurteilen. Das ist wichtig, weil Semprún sich im Kampf gegen Hitler und Franco konzentrierte und mit der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) zu lange stalinistischen Leitbildern folgte. Erst 1964 warf ihn ein "euro-kommunistischer" Reformeifer aus der Parteibahn, aber er war zu fein, den Renegaten zu geben.
Jorge Semprún, 1923 als Sohn eines linkskatholischen Intellektuellen der Madrider Gesellschaft geboren, hat als Achtjähriger seine Mutter verloren. Der Ausbruch des Bürgerkriegs überrascht den Vater mit seinen sieben Kindern im baskischen Sommersitz. Sie verlassen Spanien, der Vater wird republikanischer Gesandter in Den Haag. Mit dem Ende des Bürgerkriegs teilen sie das Pariser Exil vieler Franco-Gegner. Als Student kaum den Anfangsgründen der Philosophie entwachsen, kämpft Jorge Semprún in der Résistance gegen die deutsche Okkupation.
Im Oktober 1943 wird er verhaftet, gefoltert und in das KZ Buchenwald deportiert. Dort schützt ihn das Netz der illegalen Organisation. "Wenn es hier eine Moral gibt, dann nicht die des Erbarmens, des Mitgefühls, und noch weniger denn je eine individuelle Moral. Sondern nur die Moral der Solidarität." Im Lagerbüro für Arbeitsstatistik wird Semprún Genossen vor der Vernichtung nur schützen können, indem er andere gefährdet. Moralischer Notstand im Gewaltexzess. Unmittelbar nach der Befreiung ringt Semprún mit den unbeherrschbaren Erlebnissen, mit jenen vor allen Wörtern liegenden Tragödien. Er kann darüber nicht schreiben. "Man hätte Stunden damit zubringen können, über das tägliche Grauen Zeugnis abzulegen, ohne dem wesentlichen der Lagererfahrung nahe zu kommen." Semprún stürzt sich in das beschleunigte Leben der Pariser Nachkriegszeit. Unter den Kommunisten tobt ein Kampf gegen die kleinste Differenz. Die Rajk- und Slánský-Prozesse im Ostblock werden billigend in Kauf genommen. Semprúns Blick geht nach Spanien. Als ihn die Exilführung der PCE 1953 an die Spitze der Untergrundarbeit in Spanien setzt, trifft er auf seine Bestimmung.
Unter dem Parteinamen Federico Sánchez wird er für neun Jahre, "die gelungensten meines Lebens", zum meistgesuchtesten Franco-Gegner. Es scheint, als habe er in diesem Doppelleben zu seiner "wahren Identität" gefunden. "Es kann sogar sein, dass dieses Pseudonym mehr mit mir zu tun hat als mein eigener Name." Seine beiden "Federico Sánchez"-Bücher und der Roman "Zwanzig Jahre und ein Tag" erzählen von der Kraft, in Gegensätzen leben zu können. Die Erfolge als Untergrundchef führen ihn bis in das Politbüro der PCE, der höchsten Parteiinstanz. Da ist er dreiunddreißig. Das ist ungewöhnlich in dieser Kaderpartei, die von Veteranen des Bürgerkriegs geführt wird.
Wie lange der Stalinismus noch dauert, als er längst vorbei sein soll, zeigt, wie rigoros Semprún und sein Mitstreiter Fernando Claudín aus der PCE verstoßen werden, als sie versuchen, Vernunft in die Sache zu bringen. "Ich wollte weiter kämpfen, aber anders." Die Auseinandersetzung mit der Carrillo-Führung wird zum Buch im Buch -ein Lehrstück. Augstein führt die ideologische Quadratur des Kreises vor, an der marxistisches Denken sich immer wieder in der Praxis verschleißt. Semprún wird keine Rücksichten mehr nehmen. Er spricht auch über die stalinistischen Säuberungen, zwei Fälle beschäftigen ihn besonders: León Trilla, der zum Blutzoll der PCE gehört, und Josef Frank, dem Vertrauten aus Buchenwald, der mit Slánský in Prag hingerichtet wurde. Semprún verabschiedet sich als Revolutionär und kommt als Schriftsteller wieder. Erst nach sechzehnjährigem Schweigen hat er mit seinem Roman "Die große Reise" für die Ausfallzeit der Zivilisation eine literarische Form gefunden. "Die Dinge werden ihr Gewicht nicht nur in meinem Leben haben, sondern auch in sich selber." Seine Bücher "Die große Reise", "Die Ohnmacht", "Was für ein schöner Sonntag", "Schreiben oder Leben" und "Der Tote mit meinem Namen" sind durch das Dunkel des Vergessens getragene Zeichen eines Davongekommenen.
Franziska Augstein setzt nicht nur als Stilistin Doppelpunkte, sondern zeigt hinter der Grandezza des Schriftstellers einen Jorge Semprún der Selbstgewissheit und der Wandlungen. Er hat die moralischen Extreme des 20. Jahrhunderts aus der Nähe gesehen. Für gestandene Semprún-Leser wird nicht nur Augsteins Beherrschung der Details maßgeblich werden, sondern auch der Bogen, den sie darüber schlägt.
Franziska Augstein: Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert.

Jorge Semprún: Durchlebte Geschichte

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