Lesung mit dem Buchautor John von Düffel


10 Der vierte Tag (S. 166-167)

Kein Wecker klingelt, niemand klopft oder ruft an. Es ist halb zehn, und ich bin auf dem Weg zur Leichtschreib-Übung, ohne Eile und Verzug, schlendere vorbei an dem frühstücksleeren Pool, den noch unbesetzten Liegestühlen am Beckenrand, der Morgensonne, die sich im glatten Wasser spiegelt. Auf einmal fällt es mir unendlich leicht, pünktlich zu sein. Ich bin der Erste unter dem Sonnensegel im Garten. Nur das Hotelpersonal war schon da, hat den Tisch hergerichtet, die Stühle bereitgestellt, auch den von Schwamm, was mich nicht weiter beunruhigt.

Denn sogar ihm, seinem Kritikerblick, seiner Vernichtermiene fühle ich mich heute gewachsen. Ich habe keine Angst mehr vor irgendwem. Die Mappe, die ich unterm Arm trage, hat ein beachtliches Gewicht. Mit welchen Übungen Goethe seinerzeit Leichtschreiben gelehrt hat, weiß ich nicht. Doch ich kann jetzt von mir behaupten zu wissen, wie es geht – aus eigener Erfahrung. Ich habe es geschafft, ohne ihn, ohne seine Instruktionen und Ratschläge, seine Vor- und Denkschriften. Ich habe die ganze Nacht durchgeschrieben, die Seiten gefüllt, ohne abzusetzen, ohne nachzulassen oder müde zu werden, im Gegenteil, je später die Nacht, je früher der Morgen, desto wacher und klarer wurde ich. Ich habe mich zum Licht geschrieben, leichtschreibend, leuchtschreibend.

Und wie durch ein Wunder bin ich immer mehr geworden mit jedem Satz, jeder Seite, immer mehr ich selbst. Insofern kann ich Hedwig nur dankbar sein für die Nötigung, Goethes Manuskript zu fälschen. Ohne sie – ohne die Aussicht auf sie – hätte ich es nicht gewagt. Sie war die Muse meines Plagiats, meine Kopisten-Inspiration, die süße Verführung zu »wechselseitiger Befruchtung« und einem polygamen Umgang mit geistigem Eigentum.

Nie hätte ich mich sonst so hemmungslos auf Goethe gestürzt, nie seine Art zu denken und zu schreiben so ganz und gar kopiert. Bis es auf einmal »klick« gemacht hat und mir klar wurde, dass ich das Original ja überhaupt nicht kenne, dass ich ein Fälscher bin ohne Vorlage und dass alles, was ich kopiere, jeder Satz, jeder Gedanke, von mir ist. Auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Goethe, den ich die ganze Zeit kopiere, bin ich selbst.